11 Jul Das Blatt
Ich hatte mehrere Optionen, wo ich hingehe oder was ich tun könnte, aber an diesem Tag zog es mich zum Fluss. Ich wollte Angeln gehen. Zumindest ging mir das durch den Kopf, als ich zu meiner Lieblingsstelle am Fluss Musconetcong ging.
Der „Musky“, wie die Einheimischen ihn nennen, ist ein süßer kleiner Fluss mit kleinen Stromschnellen, die im Sonnenlicht glitzern. Es war schon eine kleine Weile her, seitdem ich eine Fliegenfischangelrute ausgeworfen hatte, denn in letzter Zeit hatte ich nur mit Speycasting gearbeitet (eine sog. zweihändige Unterhandtechnik mit dominanter Oberhand beim Auswerfen der Angelrute, im Gegensatz zur Überkopftechnik, dem Auswerfen/Casten der Angelrute mit einer ausholenden Überkopfbewegung, Anm. d. Übersetzers). Technisch gesehen ist eine Speyangelrute auch eine Fliegenfischangelrute, aber es ist ein vollkommen anderes zweihändiges System. Die einhändige Angelrute fühlte sich in meiner Hand leicht und ein wenig ungewohnt an, und ich befürchtete, ich könnte ein wenig eingerostet sein.
An diesem besonderen Tag war der Himmel wie betupft mit Wolken, so dass das Sonnenlicht in Abständen gesprenkelt durch die Bäume leuchtete um dann wieder diffus zu werden. Es war Frühlingsbeginn und in den Bäumen entfalteten sich hellgrüne Blätter. Kein Lüftchen regte sich und das beruhigende Geräusch des Wassers plätscherte im Hintergrund meiner Wahrnehmung. Zu dieser Zeit des Jahres ist das Wasser noch kalt, daher war ich mit Polar-Fleece in meiner Anglerhose und dicken Socken in meinen Stiefeln ausgerüstet.
Leise ging ich das sanft abfallende Ufer hinunter bis ich knietief im Fluss stand. Die Angelschnur rollte ab, eine verführerische Fliege befestigt, und ich machte meinen ersten Wurf…und den nächsten und den nächsten, während ich mich in diesem Rhythmus weiter flussabwärts begab, ein Schritt nach dem andern, von niemandem wahrgenommen außer der Tierwelt um mich herum. Ein Fuchs beäugte ein Paar Kanadagänse, um sie für eine potentielle Mahlzeit abzuschätzen. Vögel flogen über die Baumkronen und ein Gänsesäger (Entenvogel, Anm. d. Übersetzers) schwamm flussaufwärts. Es war noch zu früh im Jahr, als dass dutzende kleiner Küken der Ente hätten folgen können.
Als ich mich auf den Weg zum Flussabschnitt des Farmhauses machte, an einer fröhlichen kleinen Stromschnelle, wo das Wasser seinen Weg über die Felsen tanzt, bevor es sich in einen Pool ergießt, erhaschte etwas meine Aufmerksamkeit. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich ein kleines Blatt, das an einem Ast hing und im Wind flatterte.
Wie seltsam, dachte ich, heute ist gar keine Brise.
Ich schaute genauer hin.
Ist das ein Vogel? Ist er irgendwie verheddert? …Ja – Ja ist es!
Der Ast mit dem verängstigten Vogel hing über der anderen Flussseite, zu hoch und für mich unerreichbar. Ich watete an Land, lehnte meine Angel an einen Busch und griff nach einem Stock und watete zurück unter den Ast. Hier nutzte ich den Stock, um den Ast heranzuziehen und herabzudrücken, bis ich ihn in Reichweite hatte. Ich knickte das ganze Ding ab und richtete meine volle Aufmerksamkeit auf die kleine Kreatur, die mittlerweile wie wild flatterte. Wie sich zeigte, war der Vogel ein kleiner Fliegenschnäpper: grau mit schwarzem Kopf und an den Seiten hellbraun. Doch ich brauchte nicht viel Zeit für Details, um die offensichtliche Ursache seiner Notlage zu erkennen.
Jemand anderes war offenbar bereits vor mir an dieser Angelstelle gewesen. Das ist nicht wirklich überraschend, da dieser Teil des Musky zum Angelclub gehört, in dem ich Mitglied bin. Der Angler, der vor mir da war, hatte auch eine einhändige Angelrute benutzt und offensichtlich einen „schlechten“ Wurf gemacht, da seine Fliege im Baum landete und nicht am gewünschten Ort. Es ist leicht, sich an einem Baum oder Busch zu verfangen, wenn die Äste über dem Fluss hängen, es sei denn, du passt deine Würfe an die Gegebenheiten an. Ich war an einigen Orten, wo die Bäume das ganze Jahr über so aussehen, als wären sie für Weihnachten geschmückt, dekoriert mit farbenprächtigen Ködern und Fliegen, die die Angler über die Jahre zurückgelassen haben.
An diesem Punkt war der kleine Vogel verständlicherweise schon in Panik geraten, sein Herz schlug wild in seinem verzweifelten flatternden Versuch, zu entkommen. Natürlich war ich aus seiner Sicht ein großes Raubtier. Sanft schloss ich meine Hand um ihn, um ihm die verkrampften Flügel an der Seite glattzustreichen, so dass ich einen näheren Blick auf den Ast werfen konnte, um zu sehen, wie er daran festhing, was genau seine Flucht verhinderte. Das Problem war minimal, ach-so minimal, aber doch ach-so groß.
Der Angler, der vor mir dagewesen war, hatte ein kleines „Trico“ (Fliegenfischköder der eine Eintagsfliege imitiert, Anm. des Übersetzers) auf dem Ast zurückgelassen
Ich konnte das panische Herzrasen des kleinen Fliegenschnäppers spüren, als ich behutsam den Haken aus seinem Schnabel herauszog. Ich schleuderte den störenden Ast und den Köder in die Büsche und schaute in die Augen des wilden Geschöpfes. Und als ich meine Hand öffnete, flog er davon.
Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt, die magische Zeit wenn Forellen an die Oberfläche kommen, um eine Mahlzeit zu fangen. Aber ich hatte den Pool an der Stelle, an der ich stand, gründlich aufgewühlt und keine Fische waren in Sicht.
Das ist ok, das wurde mir klar, als ich zurück zum Ufer watete, um meine Angel wiederzuholen. Das heutige Angeln und wieder Freilassen, Catch und Release, da ging es nicht um Forellen. Ich hatte nur gedacht, dass ich Angeln gehen würde. Wäre ich nicht da gewesen, um das „Blatt“ im Wind flattern zu sehen obwohl es keinen Wind gab, der kleine Vogel wäre gestorben.
Ich atmete tief durch, als der Tag in die Nacht überging und fuhr nach Hause, in mir das zufriedene Gefühl eines sinnvoll verbrachten Nachmittages.