15 May Moin Moin
Es war der Samstagmorgen unseres jährlichen Wochenendseminars im Herbst in Hamburg und wir hatten ein wenig Schmuddelwetter, also Nieselregen und nasskalte Luft, die einen dazu bringt, dass man sich mit einem Kakao und einem guten Buch an ein großes Kaminfeuer auf ein gemütliches Sofa kuscheln möchte. Trotzdem waren Ariel und ich hier mit 90 Teilnehmern dabei, das Thema eines Lebens voller Freude, in dem jeder Moment zählt, unter die Lupe zu nehmen.
Das Seminar fand in einem schönen Raum statt, einem Dojo mit hohen Decken und Shoji-Schiebetüren ganz in Weiß und wir saßen vorn auf einer erhöhten Plattform mit Stefanie, die sich angeboten hatte, alles was wir sagten ins Deutsche zu übersetzen, damit alle es in einer Sprache hören konnte, die sie verstanden. Es waren Leute von so weit entfernten Orten da wie Hong Kong und als der Morgen seinen Lauf nahm, stand Holly aus New York auf, um über die Abenteuer zu erzählen, die sie und ihr Mann Eric auf ihrer Hochzeitsreise hatten, bei der sie durch Deutschland und die Schweiz reisten, Freunde besuchten und zum Abschluss bei diesem Wochenende dabei waren.
Holly ist eine liebenswürdige Frau Mitte 50 mit braunen Haaren, die sich sanft wellen und ihren Hals knapp über Kinnlänge berühren. Sie lächelt viel und das tat sie auch, als sie ihr neuestes Abenteuer in der Hamburger U-Bahn beschrieb. Sie hatte jemanden um Hilfe mit dem Ticket-Automaten gebeten, damit sie und Eric ein Ticket zur Alster lösen konnten, einem See mitten in der Stadt.
„Ich ging auf einen Mann zu, der die U-Bahn-Station betrat, um ihn zu fragen, ob er wisse, wie man den Ticket-Automaten bedient,“ sagte sie. „Ich sagte Moin Moin, weil ich zwar nicht weiß, wie man ein Ticket kauft, aber immerhin weiß, dass man Moin Moin sagt.“
„Was ist ‚Moin Moin‘?“ fragte ich.
„Das haben wir noch nie gehört,“ sagte Ariel.
Die Leute schmunzelten, als Holly erklärte, es sei ein deutscher Ausdruck, der Guten Morgen bedeutet. Jemand sagte, man könne Moin Moin den ganzen Tag lang zur Begrüßung nutzen, weil es eigentlich genutzt wird, um „Hallo“ zu sagen.
„Wirklich? Wir haben davon noch nie gehört,“ sagte ich noch einmal und Ariel stimmte mir zu.
„Oh doch!“ sagte jemand.
„Das ist ein sehr geläufiger Ausdruck,“ schloss jemand anderes.
Wir reisen schon seit mehr als 20 Jahren nach Deutschland, um Seminare zu leiten, und obwohl wir kein Deutsch sprechen, können wir inzwischen eine ganze Menge verstehen. Wir haben einzelne Wörter und Ausdrücke aufgeschnappt, die uns gefielen, besonders Wörter, die sich interessant anhören, wie z.B. „genau“. Aber das hier war das erste Mal, dass wir „Moin Moin“ hörten und ich konnte an den lächelnden Gesichtern und nickenden Köpfen vor mir sehen, dass der Ausdruck wohlbekannt war.
Lächelnd erzählte Holly weiter von ihrer Reise, wie sie um Hilfe bat, um das Ticket zu kaufen und wie ihre Bereitschaft, jemand fremdes anzusprechen, um von A nach B zu kommen, genauso lohnend war wie am Ziel anzukommen.
Der Morgen ging voran und bald war es Zeit für eine Tee- und Pinkelpause. Ariel und ich zogen unsere Jacken an und gingen raus, um zu Big Dito, dem Café um die Ecke zu gehen. Der Gehweg zwischen dem Dojo und Big Dito war nicht gepflastert und obwohl der Regen aufgehört hatte, stiegen wir vorsichtig über und um die Pfützen herum. An einer Stelle warteten wir, um einen Mann mit seinem Hund vorbeizulassen.
„Moin Moin,“ sagte er im Vorbeigehen.
„Moin Moin!“ antworteten wir unisono und Ariel und ich schauten uns ungläubig an.
„Ich frage mich, wie häufig jemand uns mit Moin Moin begrüßt hat, aber wir haben es nicht erkannt, weil wir den Ausdruck nicht kannten? Das kann doch jetzt nicht das erste Mal gewesen sein!“ sagte Ariel.
„Das ist genau wie Transformation und das Wohlbefinden, das existiert, wenn du im Moment lebst,“ erwiderte ich. „Das gibt es die ganze Zeit, aber man erkennt es nicht einen Moment, bevor man es erkennt.“
Später an dem Tag sahen wir eine Plakatwand mit „Moin“ groß und breit an einer Stelle, an der wir auch vorher schon vorbeigekommen waren, aber da wir das Wort nicht kannten, war uns das Plakat nicht aufgefallen und blieb im Hintergrund, ungelesen und unerkannt. Plötzlich war Moin Moin überall – sogar in den Studios, wo wir unsere Hamburg-Seminare geben, hing es aus Metall-Buchstaben fröhlich über dem Eingang.
Moin Moin war schon die ganze Zeit da, wir hatten nur nicht die Ohren oder Augen, es zu hören oder zu sehen – bis es soweit war. So ist es auch mit Transformation. Wenn du in den Moment eintrittst, erscheinen unmittelbar neue Möglichkeiten, die vorher vor dir verborgen waren, und es eröffnet sich plötzlich eine ganz neue Welt. Moin Moin!