Ich kam von Angesicht zu Angesicht mit Gott und war von Demut erfüllt

von Ariel Kane

Ich kam von Angesicht zu Angesicht mit Gott und war von Demut erfüllt

Die Nacht in der ich von Angesicht zu Angesicht mit Gott kam, war eine süße und dennoch ganz einfache Nacht. Es war einer von diesen herrlichen Altweibersommertagen im September und Shya und ich beschlossen, dass wir nach getaner Arbeit zum Delaware Fluss hinuntergehen würden und über die Brücke, die Lambertsville in New Jersey mit New Hope in Pennsylvania verbindet.

Die Sonne versank am Horizont, als wir Hand in Hand über die Brücke schlenderten. Das späte Nachmittagslicht schien durch den Fluss und strahlte riesige Karpfen im ruhigen Wasser direkt hinter jedem Stützpfeiler an. Schwimmend, aufleuchtend, im Schlamm wühlend, bewegungslos herumhängend, als wären sie ausgesetzt worden, waren dort Hunderte von Fischen, kleine und große. Wie Kindern viel es uns schwer, unsere Aufregung zu beherrschen. „Oh sieh”, sagte ich, auf ein riesiges Exemplar zeigend, „dieser Fisch muss knapp fünfzehn Kilo wiegen!”

Als die Dämmerung hereinbrach, wurden wir beide hungrig und anstatt nach Hause zu gehen, beschlossen wir, ein kleines, indisches Restaurant, das ich bei einem früheren Besuch in New Hope gesehen hatte, zu besuchen. Wir haben oft indisches Essen entdeckt, wenn wir in New York City waren oder Cambridge in England oder selbst in Hamburg, Deutschland, aber wir mussten noch einen Platz nah an unserem Zuhause finden, und ich hatte die Hoffnung, dass dieses Restaurant ein Ort sein würde, um eine leckere Mahlzeit einzunehmen.

Wir nahmen uns Zeit, betrachteten die Schaufenster der Läden und kamen schließlich an dem winzigen Restaurant an. Beim Eintreten gingen wir die zwei Stufen am Eingang hinab, und zu unserer Rechten waren einige Tische, einer davon mit vier Leuten besetzt. Um ihnen ein bisschen Raum zu lassen, wählten wir einen Tisch an der Wand. Der Besitzer brachte uns leuchtend orange Speisekarten und während wir diese studierten, bezahlten die anderen Kunden und gingen.

Wir bestellten unser Essen und bekamen Papadam als Vorspeise, dünne, knusprige Waffeln, die aus Linsen gemacht sind, und ein Gewürztablett mit drei kleinen Schüsseln – ein Curryjoghurt, marinierte Zwiebeln und eine Tamarindensauce. Während wir knabberten und dippten, öffnete sich die Eingangstür und ein Paar kam herein. Auf den ersten Blick dachte ich, sie wären vielleicht bedürftig, da der Mann so ungepflegt erschien, mit dunklen, zotteligen Locken, einem unregelmäßig gewachsenen Bart, ungepflegt in der Erscheinung. Wir sahen zu, wie der Kerl die Stufen hinunter manövrierte, gefolgt von dem Mädel. Er war groß und übergewichtig, teigig in seiner Erscheinung und es war offensichtlich, dass Gehen für ihn schwierig war. Er legte seine Hand auf den kleinen Buffettisch des Restaurants, um sich selbst beim Herabsteigen der Stufen zu helfen, und das Geschirr klirrte und ein Deckel flog herab. Seine Begleitung, eine blonde Frau in ihren späten Zwanzigern lachte peinlich berührt auf, wegen des Krachs..

Zuerst wählte das Paar einen Tisch in der Ecke, aber die beachtliche Masse des Mannes machte es schwierig, hinein zu passen, also trug der Besitzer ihre Gedecke und Wassergläser respektvoll zu einem bequemeren Tisch, uns direkt gegenüber. Das Mädel studierte die Speisekarte und las sie laut vor, über Worte wie „tropisch” oder „Mango” stolpernd.

Unsere Hauptgerichte kamen, und das Paar komplett vergessend, begannen wir zu essen. Pikante Gewürze explodierten auf unseren Zungen, gemildert durch Häppchen von Basmatireis. Wenig später bekam das Paar seine Papadams und Gewürze und plötzlich fing sie an zu rufen, „Was ist da drin? Das ist wundervoll!” Ihr Entzücken und Staunen darüber, was offensichtlich neue Geschmacksrichtungen für sie waren, ließen den Eigentümer glücklich die Inhalte jedes Schälchens erklären.

„Oh wow!” sagte sie. „Wir werden ein bisschen brauchen, bis wir bestellen. Das ist erst das zweite Mal, dass ich indisches Essen esse, und ich will es richtig machen.”

„Lassen Sie sich Zeit,” antwortete der Besitzer und verschwand wieder in der Küche. Kurz darauf beendeten Shya und ich unsere Mahlzeit, und er ging nach vorne um zu bezahlen. Als ich meine Weste anzog, hörte ich eine Stimme, so leise, dass ich fast seine Frage verpasst hätte.

„Hast du dein Essen genossen?”, fragte der Mann.

„Ja, das habe ich,” antwortete ich, als ich mich ihrem Tisch näherte.

„Was hattest du?”, fragte er, während er seinen Kopf neigte um zu mir hoch zu schauen.

„Mein Mann hatte Lamm Vindaloo,” sagte ich, mir war klar, dass sie ihre Mahlzeit noch aussuchen mussten. „Es ist ziemlich scharf. Ich hatte Lamm Rogan Josh, das ist milder und mit Zwiebeln und Tomaten.”

„Ich hatte zuvor schon einmal indisches Essen,” meldete sich die junge Frau zu Wort, „und sie haben mir gesagt, das Gericht wäre nicht scharf, aber ich habe einen Tropfen mit der Spitze meines Fingers probiert – einen Tropfen! Mein Mund brannte wie Feuer. Wenn das nicht scharf war, weiß ich nicht, was scharf ist! Ich will das nicht noch einmal erleben”,

Ich war berührt davon, wie unschuldig sie war. Wie weltfremd, schlicht und einfach. Sie war einfach sie selbst, und führte eine lebendige Unterhaltung mit einer interessierten Fremden. Keine Selbstbewertungen. Kein Sich–selbst–in–Frage–stellen. Einfach sein. Einfach da. Es war ein süßer Moment von Verbundenheit. Einer, wert ihn auszukosten.

Dann beugte der Mann mit dem zotteligen Haar seinen Kopf noch weiter und plötzlich waren wir von Angesicht zu Angesicht. Ich kann nicht sagen, dass er mir in die Augen sah, da seine Augen nicht in einer exakten Weise fokussierten – ein Auge sah hierhin, das andere dort. Seine Züge waren verschwommen, weich gezeichnet, asymmetrisch, rund und weich. Er sprach wieder leise, und ich musste mich anstrengen ihn zu hören.

„Hab’ eine schöne Nacht”, murmelte er, und für einen Moment stand die Zeit still. Da war kein nach vorne gerichteter Impuls –das Bedürfnis irgendwohin zu gelangen. Da war auch keine Vergangenheit – keine Geschichte, die diesen sanften Riesen und mich verband. Unsere spontane Vertrautheit war ganz klar nichts, das sich durch ein Leben gemeinsamer Erlebnisse und  Interessen gebildet hatte. Dennoch sprangen seine Worte direkt in mein Herz, denn dieser große, zottelige Bär von einem Mann hatte keine gesellschaftliche Fassade über seiner Erscheinung, keine Barrieren zwischen seinem Herzen und meinem. Vollkommen überwältigt war mir klar, dass ich gerade von Angesicht zu Angesicht mit Gott gekommen war.

„Danke dir, ich schätze das wirklich”, sagte ich und stand ein wenig aufrechter, und ich meinte es wirklich. Es ist schwer zu beschreiben wie tief bewegt ich war, von dieser kurzen Begegnung. Alle möglichen Vorurteile über Erscheinung, Intelligenz, Bildung, Gewicht und Schwächen waren beiseite gefegt, und aus was für einem Grund auch immer, war ich dem Gott in diesem Mann begegnet, der direkt unter der Oberfläche wohnt, frei von List oder Manipulation, ein Mann der nicht hinter seinem Intellekt versteckt war, ein Mann einfach, gerade und wahrhaftig. – ein menschliches Wesen. Es war eine bewegende, von Demut erfüllte Erfahrung.

Als wir das Restaurant verließen und in den späten Sommerabend hinaustraten, hielt ich Shya’s Hand und fühlte mich wahrhaft gesegnet, lebendig zu sein.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments