01 Jun Der Spaulding–Mond
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Ich war vier, als mein Vater den Mond machte. Es war spät und wir spielten Fangen. Der 19-Uhr-20-Zug war an diesem Augustabend in Far Rockway angekommen, und mein Vater hatte eine Mitfahrt von der Bahnstation mit Mr. Traiger erwischt. Ich wartete im Hof, das Gras kitzelte meine bloßen Füße, und in meiner Hand umklammerte ich einen kleinen pinkfarbenen Gummiball der Firma Spaulding.
„Papa, Papa”, ich rief schon, bevor er auch nur die Chance hatte, Atem zu holen, „spiel Fangen mit mir! Bitte, büüüütte”, bettelte ich.
Mein Vater hatte ein engelsgleiches Gesicht. Es legte sich in Lachfältchen, die Last des Tages wich von seinen Schultern, als er seine Aktentasche bei der Treppe abstellte.
„O.K. Shya, gib mir den Ball und renn da rüber.”
Ich übergab den Ball, eine schnelle Umarmung um seine Mitte, und ich hetzte zu der Ecke des Rasens. Er warf mir ein paar Bälle zu, und obwohl ich kaum einen fing, funkelte meine Begeisterung wie die frühen Sterne, die ihren Weg hindurchstahlen, durch das ziselierte Blau des Himmels. Die Sonne war untergegangen, all ihr Feuer so gut wie erloschen, und dann erschuf mein Vater, der mein Held war, ein Wunder. Er warf den Gummiball hoch in den Abendhimmel, und das war der Moment, in dem er den Spaulding-Mond erschuf. Ich verlor den Ball aus den Augen als er in einem hohen Bogen himmelwärts flog, und panisch begann ich zu suchen, um ihn zu finden und zu fangen. Das war der Moment, in dem ich diesen wunderhübschen, vollen Herbstmond über mir hängen sah. Ich war wie hypnotisiert. Noch lange, nach dem mein Vater ins Haus verschwunden war, saß ich auf der Treppe und starrte auf das, was mein Vater erschaffen hatte.
Ich glaubte von ganzem Herzen, dass mein Vater den Mond gemacht hatte. Es dauerte Jahre, bevor ich bezüglich dieser Vorstellung eines Besseren belehrt wurde. Manchmal betrachte ich mein Leben und muss einfach nur den Kopf schütteln, wenn ich sehe, da ist die Geschichte, und da ist das Offensichtliche. Als Kind hatte ich mir viele Dinge erzählt, die zu jener Zeit wahr erschienen, es aus der Perspektive eines Erwachsenen aber offensichtlich nicht waren.
Zum Beispiel, als ich ein wenig älter war, 8 oder 9 vielleicht, verbrachte ich einige lange und langweilige Nachmittage in der Fabrik meines Vaters im New Yorker Garment District. Ich lief in endlosen Kreisen um die großen Schnitttische herum, einen Finger hinter mir herziehend und hielt Ausschau nach etwas, mit ich mich beschäftigen konnte. Damals war William Salerno der Zuschneider und schnitt das Material zu, damit es zu feinen Kleidern genäht werden konnte.
William hatte eine magische Schublade unter dem Schnitttisch, gefüllt mit Krimskrams, Pfeifenputzern, Büroklammern, einer alten Briefmarke, einem Penny oder zwei. Er hatte auch Schachteln über Schachteln von Zahnstochern, und ach, wie gerne hätte ich so eine gehabt. Ich träumte von all den Sachen, die ich mit diesen winzigen Holzstiften machen könnte – Häuser und Züge und Rennwagen. Ich bettelte und schmeichelte, und er überließ mir eine der kostbaren Schachteln. Ich begann mit der Arbeit mit einer Flasche von Elmers-Klebstoff und großen Hoffnungen, das Auto zu kreieren, das ich vor meinem inneren Auge sah. Es war ein deprimierender Misserfolg, klumpig und unförmig, in nichts meiner Vorstellung entsprechend.
Und da war er, der Beweis, der Beginn einer wirklich guten Geschichte. Ich war „tollpatschig, ungeschickt mit den Händen, unfähig irgendetwas von Wert zu schaffen”. Vollkommen besiegt warf ich alles weg und saß, mit den Beinen gegen die Stuhlsprossen tretend, und wartete, dass dieser lange, lange Nachmittag zu Ende gehen würde.
Heute habe ich diese Geschichte immer noch: Ich bin immer noch tollpatschig, ungeschickt mit den Händen, ungelenk, ein Versager und unfähig irgendetwas von Wert zu bauen. Und mehr noch, gemäß dieser alten Geschichte, habe ich noch nie etwas Wertvolles in meinem Leben getan. Und doch, in meinem Esszimmer steht ein glatter Tisch aus schwarzem Walnussherbstholz. Das Holz ist liebevoll von Hand gefräst und bearbeitet, obwohl, die Ecken habe ich „lebendig” gelassen mit immer noch intakter Rinde. Die Maserung ist sehr fein, genauso wie die Handwerkskunst. Er wird wahrscheinlich immer noch so wunderschön sein, lange nach dem meine Enkelkinder erwachsen sind. Ich bin „nicht gut darin” Fliegen fürs Fliegenfischen zu binden, gemäß dieser Geschichte. Und doch bin ich voll Leidenschaft dabei sie zu binden, und meine Frau, Ariel, hat all ihre Weltrekordfische mit meinen Fliegen gefangen. Und ja, in diesen „tollpatschigen, ungeschickten Händen” hat sie seit über 25 Jahren Genuss gefunden.
Ja, ich habe meine Geschichte, und dann gibt es da das Offensichtliche, da gibt es Wahrheit, wenn man sich die Mühe macht hinzuschauen. Wir alle haben uns selbst große und kleine Unwahrheiten erzählt, seit wir Kinder waren. Lässt man sie ununtersucht, dann reichen sie von süß und lachhaft bis zu offensichtlich ätzend und ranzig, fähig, diesen Moment in etwas Garstiges zu verwandeln.
Glücklicherweise sind unsere Geschichten nichts anderes als Spinnfäden. Ein Windhauch kann sie hinwegwehen. Das Licht des Bewusstseins, das einfache Sehen einer alten Geschichte, ohne sie oder dich selbst zu be- oder verurteilen, wird der Wahrheit erlauben enthüllt zu werden. Und dann hast du vielleicht immer noch diese alte Geschichte, aber sie hat dich nicht mehr.