Das Leben zu dir kommen lassen und genug sein

von Ariel

Das Leben zu dir kommen lassen und genug sein

Den meisten von uns wurde beigebracht, dass wir die Dinge erreichen sollen, die wir anstreben. Wir wurden trainiert darin, unsere Träume zu jagen, das Gold anzusteuern, das Glück zu verfolgen. Wir haben gelernt, im Wettstreit zu stehen, Dinge zu erreichen oder zu produzieren. Aber nur sehr wenige von uns sind geübt darin, sich zu entspannen und das Leben zu uns kommen zu lassen – darin, einfach zu sein anstatt etwas zu tun.

Eine der ersten Lektionen darin, das Leben zu mir kommen zu lassen und wirklich ich selbst zu sein, passierte in meinen frühen 20ern, als ich eine Schauspielausbildung machte. Ich habe den Spruch gehört, dass die Kunst das Leben imitiert, und die Art und Weise, wie ich an die Schauspielerei heranging, bewies diese Aussage auf jeden Fall. Ich war bestimmt talentiert, aber hatte sicherlich kein Vertrauen, dass ich genug wäre – ich dachte, ich müsste etwas zusätzlich machen. Zu der Zeit war der Großteil meiner Erfahrungen auf der Bühne in der Schule gewesen und in Shows in kleinen Theatern jenseits des Broadway. Ich hatte gelernt, meine Stimme so einzusetzen, dass sie hinten im Theater gehört werden konnte, und meine Gesten zu übertreiben, um die Menge zu bespielen. Als ich anfing, vor einer Kamera zu arbeiten, wurde mir jedoch schnell klar, dass das ganz neue Fähigkeiten erforderte. Wenn man eine Szene im Film spielt, kann sich die Kamera beispielsweise direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Raumes oder sogar jenseits eines Feldes draußen befinden. Ich war daran gewöhnt, automatisch den Abstand einzuschätzen und dann zu versuchen, den Raum zu füllen. Aber die Kamera „kam“ zu mir. Die Linse funktionierte so, dass sie mühelos auf einen winzigen Teil meines Gesichts fokussieren konnte: meine Lippen, meine Nase, meine Augen. Wenn ich mich bemühte, meine Gefühle zu zeigen und meine Gedanken telegraphisch rüberzubringen, war das Resultat eine ziemlich groteske Karikatur. Ich sah nicht natürlich aus. Ich sah aus, als ob ich schauspielerte – ziemlich schlecht, um ehrlich zu sein – gefangen in einer Schleife, das Sein zu tun.

Dann hatte ich im Zuge von alltäglichen Erlebnissen eine Erleuchtung. Eines Abends ging ich ins Kino und sah Das China-Syndrom mit Jane Fonda, Michael Douglas und Jack Lemmon. Es war ein Film, der vor Atomreaktoren, Gier und der Atomenergieindustrie im Allgemeinen warnte. Mit unheimlichem Timing kam der Film 1979 gerade heraus, als der Reaktor in Three Mile Island in Pennsylvania, USA, eine teilweise Kernschmelze hatte. Für mich war der entscheidende Moment, als Jack Lemmons Charakter, Jack Godell, ein loyaler Angestellter der Energiefirma, erkannte, dass etwas grundlegend falsch lief. Es ist lange her, dass ich die Szene gesehen habe, aber ich erinnere mich, dass er eine merkwürdige Vibration sah, die sich in konzentrischen Kreisen auf seinem Kaffee ausbreitete, was für ihn ein Hinweis darauf war, dass der Reaktor kurz vor der Kernschmelze stand. Was als nächstes passierte, war unfassbar: ein Wendepunkt für den Charakter im Film und für mich im echten Leben. Konfrontiert mit dem Verlust von allem, woran er glaubte, und der unmittelbaren Gefahr eines nuklearen Desasters, tat Mr. Lemmon… absolut nichts. In dem Moment der Stille fokussierte die Kamera sein Gesicht in Nahaufnahme und ich sah ihm gebannt beim Denken zu. Als seine Gedanken über sein Gesicht glitten, veränderten sich kleine motorische Muskeln. Eine leichte unwillkürliche Verhärtung um seine Augen herum zeigte, dass eine lebensverändernde Entscheidung getroffen worden war. Es war ein Moment  des Seins, nicht des Tuns. Diese kleinste aller Bewegungen war auch für mich lebensverändernd und meine Welt war nie wieder dieselbe.

Nach dem Film ging ich an jenem Abend zurück zu meiner kleinen Mietswohnung an der westlichen 49. Straße und starrte im Spiegel mir selbst in die Augen. Ich wartete, bis das Gesicht, das mich ansah, entspannt, neutral und friedlich aussah. Dann, in der Bemühung nichts zu verändern, begann ich zu denken. Ich begann mit sehr starken inneren Ideen und Emotionen, ich hasse dich und dann ich liebe dich. Wie ein Wunder enthüllte mein Gesicht meine Gedanken ohne irgendeine Hilfe. Es ging einfach nur ums Sein. Ohne eine Neigung des Kopfes, ein Schütteln des Handgelenks oder eine Änderung meiner Haltung war mein Innenleben klar zu sehen. Ich erkannte plötzlich, dass einfach ich zu sein genug war.

Jahrzehnte später ist mir diese Lektion immer noch präsent. Es ist so einfach, vom vorwärts gerichteten Schwung des Lebens mitgerissen zu werden. Wenn ich in einen Strudel gezogen werde, etwas fertig zu bekommen, voran zu kommen, etwas zu produzieren zu Lasten dieses Moments, merke ich, dass es an der Zeit ist, aufzuhören, mich zu entspannen, mir selbst zu erlauben, ruhig zu werden. Denn es ist in diesen Momenten der Ruhe, dass ich die Macht erfahre, das Leben zu mir kommen zu lassen – die Tiefgründigkeit des Seins anstelle des Tuns.

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